Der Kelch der Wahrheit
Es klopfte. Dumpf schallte es durch die Gänge eines Nonnenklosters. Das letzte Licht des Sonnenlaufes verkündete die Dämmerung und die trockene Luft trug den Duft von Speisen hinaus. Eine der Älteren öffnete das Tor. „Bruder Claudius, Ihr seid es“, sie ließ ihn ein.
„Schwester Letitia, ich muss sie sprechen!“ Seine Stimme war drängend.
Die Ältere erwiderte: „Sie ist in ihrer Kammer und betet.“ Sie sah, wie er in den Innenhof hastete und rief ihm nach: „Sie wird Euch nicht empfangen! Ihr habt sie zu sehr empört!“
Er erwiderte: „Sie weiß, wie wichtig sie für meine Niederschriften ist!“ Dann verschwand er in den Gängen.
Schwester Letitia war ein Mädchen mit etwa siebzehn Sommern. Ihre Augen funkelten wie Saphire und ihr Lächeln vertrieb jede Dunkelheit. Bruder Claudius hatte mit ihr in der Bibliothek des Klosters einen Kelch gefunden. Nun war er daran die Kräfte dieses Kelches mit ihr zu ergründen.
Er hämmerte an die Kammertür. „Schwester Letitia, bitte lasst mich ein!“
„Verschwindet!“, rief sie hinaus.
„Aber spürt Ihr es nicht! Die Kraft Gottes ist mit uns, mehr denn je!“
Sie erwiderte: „Schwester Rosetta gibt mir recht. Beten und der Glaube selbst sollten stets mächtiger sein, als der Wein aus einem Kelch!“
„Es ist doch nicht bloß der Wein. Es ist der Kelch und die Vergangenheit, die an ihm haftet!“
„Geht! Bitte geht!“, rief Schwester Letitia wieder.
Bruder Claudius zog und zerrte an der Kammertür. Doch sie blieb verschlossen. Schließlich seufzte er und sagte: „Ihr findet mich am Brunnen! Vielleicht werdet Ihr mich bei meinen Schriften doch weiter begleiten.“ Damit machte er kehrt und schlenderte die Gänge in den Innenhof zurück.
Bruder Claudius hatte etwa fünfundzwanzig Sommer gesehen. Seine Haut war blass und die Augen kastanienbraun. Niemand verstand, warum es ihn immer wieder in das Nonnenkloster verschlug.
Er ließ sich auf eine Bank nieder und betrachtete den Brunnen, aus dem etwas Quellwasser sprudelte. Nachdenklich öffnete er seinen Lederbeutel und zog daraus ein Buch, eine Feder und den besagten Kelch hervor. Er legte Buch und Feder beiseite, erhob sich und schritt mit dem Kelch in der Hand gen Brunnen hin.
Sachte hielt er ihn in das Quellwasser und schwenkte in darauf in der Luft. Er roch daran und rümpfte gleich die Nase. „Es duftet nach Gülle!“
Mit dieser Erkenntnis eilte er zu seinem Buch zurück und begann den Geruch zu beschreiben. Es war nicht wahrlich, wie der Dung der Bauern. Es war mehr, wie als wollte der Kelch Bruder Claudius‘ Stimmung wiedergeben.
Für einen Moment blickte er gen Himmel hinauf. Ein Busshard drehte seine Kreise. Zwei Schäfchenwolken zogen darüber vorbei. Er schloss die Augen. Seine Gedanken zeichneten Blumenwiesen und Schwester Letitia, wie sie einen Blumenkranz flechtete.
Als er die Augen wieder öffnete war der Kelch hinfort. Erschrocken blickte er sich um. „Herr gib mir die Kraft. Wo ist…?“ Als er zum Brunnen sah, war da Schwester Letitia, die den Kelch in das Brunnenwasser tauchte. „Schwester Letitia.“
„Nur dieses eine Mal noch!“, verkündete sie.
Er lächelte.
Vorsichtig hob sie den Kelch empor und schwenkte ihn, wie auch Bruder Claudius bereits zuvor. Als sie jedoch daran roch, lächelte sie verträumt und berichtete von Honig und Rosen.
Bruder Claudius schrieb und schrieb, was auch immer Schwester Letitia ihm beschrieb. Als sie ihm dann den Kelch reichte, kostete er.
Er spürte und empfand all das, was sie ihm noch zuvor erklärte. Dann brach er zusammen.
Es gefällt mir sehr, wie die Eindrücke der Charaktäre geschrieben sind und die Umschreibung der Personen ist auch angenehm. Genug, um sie sich gut vorstellen zu können, jedoch nicht zu viel, das es die eigene Fantasie einschränke.
Bei dem Cliffhänger sorgt man sich gleich, um den armen Bruder Claudius.
Mit liebevollen Grüßen Tejad