Hanja – Im Schatten der Westwälder

Hanja – Im Schatten der Westwälder

Es war Herbst. Das Laub der Bäume erstrahlte in kunterbunten Farben. Gelegentlicher Wind zerrte Blätter zu Boden. Das bunte, schlüpfrige Laub machte den Waldboden rutschig und nass. Bloß die tiefgrünen Nadelbäume behielten ihr stachliges Sommerkleid.

Der Westwald stand so dicht, dass sich Mensch und Tier in seinen Schatten leicht verbergen konnten. Dennoch fand sich im Herzen dieses Waldes eine Lichtung.

Ein Mädchen huschte durch das hohe Gras. Die Halme reichten ihr bis zur Hüfte. Ihre Haare waren kastanienbraun, ihr Lächeln so strahlend, wie die Sommersonne nur zu sein vermochte. Sie ließ sich auf die Knie fallen und beobachtete, wie ein Maulwurf gerade einen Erdhügel errichtete. „Oh, wer ist denn das?“

Die kleine Hanja steckte einen dünnen, blassen Finger in die Erde. Sie kicherte, als sie den Maulwurf unter der Erde spürte. Dann sah sie auf.

Ein Rehkitz hüpfte in weiten Sprüngen über die Lichtung. Es hielt inne und blickte zum Menschenkind herüber.

Hanja richtete sich auf.

Das Rehkitz äugte skeptisch herüber.

Die Kleine machte langsame Schritte auf das Waldtier zu.

Das Tier drehte die Ohren.

Hanja war bloß noch fünf Schritte entfernt, da huschte das Rehkitz plötzlich davon.

Hals über Kopf folgte Hanja dem Rehkitz in die Tiefen des Waldes hinein. Äste und Gestrüpp machten ihr das Laufen schwer. Doch ihre Lederstiefelchen schützten sie gut.

Das Rehlein sprang in weiten Sätzen voran und altes Laub raschelte unter seinen Hufen.

Hanja rief nach ihm: „So warte, so warte doch!“

Zwei Tauben huschten in den Himmel davon und Hanja blickte ihnen nach.

Das Rehkitz verschwand in Dickicht.

Als Hanja ihren Blick wieder in den Wald richtete, schien es verschwunden.

„Rehlein! Rehlein!“, rief sie aus.

Plötzlich erinnerte sich Hanja an die Mahnungen ihrer Eltern, die sie vor den Gefahren in den Tiefen des Waldes warnten. Sie folgte dem Rehkitz nun eilig, aber doch achtsam und zwängte sich schließlich durch das Geäst des Dickichts hindurch.

Da schien ein Abgrund. Sie trat ins Leere.

„Ahh!“

Das Mädchen kullerte die sandige Grabenwand hinunter. Wurzeln und Sand zerzausten und verschmutzten ihr kastanienbraunes Haar.

Den Boden erreicht, blieb sie für einige Herzschläge erschrocken liegen.

Das Rehkitz beschnupperte sie.

Sie schaute auf, hob vorsichtig die Hand und strich neugierig über das rauhe Fell des Waldtiers.

Es schnaubte und stupste Hanja an.

Die Kleine rappelte sich auf, strich sich mit den sandigen Händchen einige Strähnen aus dem Gesicht und begann wieder zu lächeln.

„Du bist sonderlich. Erst läufst du fort und nun bleibst du da.“

Das Rehkitz plusterte sich auf und hielt Hanja die Flanke hin.

„Oh, darf ich aufsteigen? Darf ich, darf ich, darf ich?“

Wie, als wolle das Rehkitz ihr antworten, schubste es Hanja an.

Das Mädchen ließ sich kein weiteres Mal bitten, vergrub ihre Finger im Fell des Waldtiers und kletterte hinauf. Schon schoss das Kitz mit ihr davon.

Der Wind sauste in Hanjas Ohren.

Geäst fegte an ihnen vorüber. Die Baumkronen wurden dichter und dichter. Die Bäume rückten immer mehr zusammen und bald war es so dunkel, dass Hanja ihre Orientierung verlor.

So tief hatte sie sich noch nie in den Wald gewagt.

Plötzlich zischte ein blauer Blitz an ihnen vorbei.

Das Rehkitz schlug einen Haken.

Für Hanja kam der Richtungswechsel zu hastig und es warf sie ab.

Sie flog einen hohen Bogen und landete hinter einem großen Ameisenhaufen.

Ein zweiter Blitz zischte durch den Wald und es fegte das Rehkitz an den nächsten Baum. Bewusstlos sackte das Tier in sich zusammen.

Hanja hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund. Sie ahnte, was das bedeutete.

Priester des Ordens.

Leise krabbelte sie, über den stachligen Waldboden, etwas von dem Ameisenhügel fort. Sie hockte sich hinter eine große Baumwurzel und versuchte durch das Astwerk zu spähen.

Die Gestalt in einem nachtschwarzen Ordensgewand gehüllt schritt auf das leblose Rehkitz zu und hockte sich nieder. Die schlanken, beinahe abgemagerten Hände strichen sanftmütig über das Fell.

„Ein Waldkind wie Du hätte sich nicht hierher verirren sollen. Dies ist mein Schattengefilde. Ich dulde keine Fremden!“

Hanjas Herz klopfte bis zum Hals. Dieser Ordenspriester machte ihr Angst. Sie machte sich ganz klein und zitterte.

Plötzlich war er da.

Sie sah ihm in die Augen.

Nur weißer Nebel.

Da waren keine Iris, kein Augen.

„Neeein, nicht!“, schrie sie.

Er hob seinen Priesterstab.

„Neeein, Mama! Mama!“

Hanja erwachte aus ihrem Traum und Schweißperlen standen auf ihrer Stirn. Ihr Haar war zerzaust und voller Knoten.

„Mama!“, rief Hanja erneut. Da eilte Yveliña in ihre Kammer.

„Was ist denn geschehen, mein Herz? Hattest Du eine Nachtmahr?“

„Es war so gruslig! Da war…da war…“

Yveliña unterbrach ihre kleine Tochter.

„Schschsch…es war nur eine Nachtmahr. Es war nichts.“

Ihre Stimme klang schützend und wärmend.

Auch Alestien erschien in der Tür. Sein Haar war ebenfalls zerzaust
und die Augen zeichneten Müdigkeit.

Er murmelte: „Hat sie erneut im Nebel der Nachtruhe Bilder des Westwaldes erblickt?“

Yveliña schaute ihn vorwurfsvoll an. „Es war nichts mein Schatz, es war bloß eine Nachtmahr!“





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